Cyne­fin, Dun­ning-Kru­ger und Corona

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Was hat ein wali­si­sches Wort, ein Frame­work zum Wis­sens­ma­nage­ment und eine kogni­ti­ve Ver­zer­rung mit der aktu­el­len Pan­de­mie zu tun und wie passt es zur agi­len Arbeits­wei­se? Im fol­gen­den will ich kurz das Cyne­fin-Frame­work und den Dun­ning-Kru­ger-Effekt erklä­ren und ihre Anwend­bar­keit für die aktu­el­le Lage in der Welt skizzieren.

Befasst man sich mit agi­len Arbeits­wei­sen und Metho­den, wird man frü­her oder spä­ter garan­tiert über das Cyne­fin-Frame­work von Dave Snow­den stol­pern. Das Frame­work klas­si­fi­ziert Pro­blem­stel­lun­gen und beschreibt not­wen­di­ge Vor­ge­hens­wei­sen, um den unbe­kann­ten Her­aus­for­de­run­gen zu begeg­nen. Dar­in wer­den die Unter­schie­de zwi­schen kom­pli­zier­ten und kom­ple­xen Pro­ble­men ver­deut­licht (in der All­tags­spra­che oft ver­wech­selt) und die Abgren­zung zu ein­fa­chen und chao­ti­schen Pro­blem-Domä­nen beschrie­ben. Eine letz­te Domä­ne ist die sog. Dis­or­der, also völ­li­ge Unkennt­nis über eine Kausalität.

Kom­plex vs. Kompliziert

Im Ein­zel­nen wer­den die vier Haupt­do­mä­nen wie folgt unterschieden:
Bei ein­fa­chen Pro­ble­men ist das Zusam­men­wir­ken von Ursa­che und Wir­kung offen­sicht­lich. Die­se Pro­ble­me kann man lösen indem man zum Best-Prac­ti­ce greift, das Pro­blem und eine pas­sen­de Lösung nach­schlägt und die Anwei­sun­gen anwendet.
Die kom­pli­zier­ten Pro­ble­me unter­schei­den sich dar­in von den ein­fa­chen, dass die Bezie­hung zwi­schen Ursa­che und Wir­kung erst unter­sucht wer­den muss und ein gewis­ses Exper­ten­wis­sen erfor­der­lich ist.
Anders ver­hält es sich mit den kom­ple­xen Pro­ble­men, bei denen die Bezie­hung zwi­schen der Ursa­che und ihrer Wir­kung sich nicht direkt im Vor­aus erken­nen lässt und sie ledig­lich in der Rück­be­trach­tung deut­lich wird. Man defi­niert also eine Hypo­the­se, pro­biert die­se aus, betrach­tet das Ergeb­nis und passt die Hypo­the­se an. Inspect and Adapt kommt schnell in den Sinn.
Bei chao­ti­schen Pro­ble­men hin­ge­gen kann man ledig­lich reagie­ren, über­prü­fen und die Hand­lung anpas­sen. Für eine Hypo­the­se bleibt kei­ne Zeit.
Die Idee hin­ter dem Frame­work besteht dar­in, eine Hil­fe­stel­lung bei der Klas­si­fi­zie­rung von neu­en Pro­ble­men zu erhal­ten, um so nicht vor­ei­lig eine unpas­sen­de Hand­lungs­emp­feh­lung zu wäh­len und damit even­tu­ell falsch zu reagieren.
Beherrsch­bar wer­den die Pro­blem­stel­lun­gen, in dem man es schafft, sie in die jeweils nied­ri­ge­re Klas­se zu bewe­gen. Auch ist die Klas­si­fi­zie­rung indi­vi­du­ell und hängt vom Betrach­ter ab. Für den einen kann ein Pro­blem ein­fach sein, dem ande­ren erscheint es aber man­gels Erfah­rung als kom­pli­ziert oder gar kom­plex. Ein ande­rer mag es viel­leicht als chao­tisch emp­fin­den und gar kei­nen Zusam­men­hang zwi­schen Ursa­che-Wir­kung erkennen.

Agi­le Metho­den sind mit ihrem empi­ri­schen Ansatz bes­tens dafür geeig­net, kom­ple­xe Pro­blem­stel­lun­gen anzu­ge­hen. Ihre Stär­ke liegt im Explo­ra­ti­ven und Metho­den wie SCRUM bie­ten einen Rah­men dafür, Erfah­run­gen zu sam­meln und kom­ple­xe Pro­ble­me her­un­ter zu bre­chen, bis sie nur noch kom­pli­ziert oder gar ein­fach sind. Durch die Anwen­dung des Cyne­fin-Frame­works kann man daher fest­stel­len, ob ein agi­les Vor­ge­hen über­haupt geeig­net ist, um einer Pro­blem­stel­lung zu begeg­nen. Han­delt es sich näm­lich ledig­lich um kom­pli­zier­te oder gar ein­fa­che Auf­ga­ben, könn­te das agi­le Vor­ge­hens­mo­dell nicht das rich­ti­ge sein, da in den bei­den Fäl­len explo­ra­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se nicht not­wen­dig ist.

Wie passt das Cyne­fin-Frame­work nun zur aktu­el­len Coro­na-Situa­ti­on (Aus der Sicht eines nicht-Viro­lo­gen wohl­ge­merkt)? Da wir zumin­dest rela­tiv schnell gewusst haben, dass es sich bei der Ursa­che der Erkran­kung um ein Virus han­delt, konn­te zumin­dest nach einer ers­ten Bestands­auf­nah­me das Pro­blem von Dis­or­der (Unkennt­nis) (Men­schen erkran­ken und ster­ben, mehr weiß man erst­mal nicht) auf chao­tisch redu­ziert wer­den, da kein Gegen­mit­tel bekannt und die Über­tra­gungs­we­ge eben­falls eher ver­mu­tet wer­den konn­ten, man aber gleich­zei­tig die unkon­trol­lier­te Aus­brei­tung ein­däm­men musste.
Wie kann einer sol­chen Gefahr begeg­net wer­den? Gemäß dem Frame­work muss man schnell reagie­ren und schaut sich dann an, ob ein gewünsch­ter Effekt beob­acht­bar ist. Dann reagiert man erneut und wie­der schaut man sich an, ob die Fall­zah­len sich güns­tig ent­wi­ckeln oder nicht. Wenn man Glück hat, nutzt man neue Erkennt­nis­se von Exper­ten dazu, auch schon ers­te Hypo­the­sen zu Ursa­chen und Ein­däm­mung for­mu­lie­ren, und über­prüft eben­falls im Nach­gang, ob die dar­aus resul­tie­ren­den Hand­lungs­emp­feh­lun­gen funk­tio­niert haben – oder eben nicht.

Von mei­ner War­te aus ist genau das sei­tens der Ver­ant­wort­li­chen auch gemacht wor­den – wenn auch viel­leicht unglücklich/​nicht aus­rei­chend trans­pa­rent kom­mu­ni­ziert. Bei der gan­zen Pan­de­mie kann man aber wun­der­bar sehen, wie die Pro­blem­stel­lung all­mäh­lich von Dis­or­der zu chao­tisch, zu kom­plex und mit einem wirk­sa­men Impf­stoff letzt­end­lich kom­pli­ziert wird.

Vor die­sem Hin­ter­grund erschei­nen die unter­schied­li­chen Stra­te­gien der vie­len Län­der gar nicht mehr so ver­wun­der­lich. Denn im Gro­ßen und Gan­zen gab es kei­ne oder nicht vie­le best-prac­ti­ces (z.B. gründ­lich Hän­de waschen oder spä­ter die sog. AHA-For­mel: Abstand hal­ten, Hygie­ne beach­ten, All­tags­mas­ke tra­gen). Statt­des­sen muss­te jedes Land sofort und kurz­fris­tig reagie­ren und tat das, was im jewei­li­gen Moment den dor­ti­gen Exper­ten viel­ver­spre­chend erschien. Teil­wei­se konn­te man auf Erfah­run­gen ver­gan­ge­ner Pan­de­mien zurück­grei­fen (H1N1 im Jahr 2009 oder die his­to­ri­schen Daten der sog. “Spa­ni­schen Grip­pe” aus 1918/​1919 ) und tat es auch. Letzt­end­lich war und ist die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on den­noch neu, was das glo­ba­le Aus­maß angeht und liegt ganz klar größ­ten­teils in der chao­ti­schen Domäne.

Mit Unsi­cher­heit gewinnt man kei­ne Wahlen

Der Natur der Poli­tik ist lei­der geschul­det, dass man ger­ne als Macher auf­tre­ten möch­te, der sicher und ent­schlos­sen agiert. Unsi­cher­heit und Unwis­sen­heit zuzu­ge­ben erfor­dert viel Cha­rak­ter­stär­ke und liegt nicht jedem – vor allem gewinnt man so ver­mut­lich kei­ne Wah­len. In der Fol­ge erscheint es den Außen­ste­hen­den dann so, als wüss­ten Ver­ant­wort­li­che nicht, was zu tun und als wider­spre­chen sie sich selbst lau­fend. Genau das ist auch der Fall. Und es ist auch das der Domä­ne ent­spre­chen­de und kor­rek­te Vor­ge­hen: aus­pro­bie­ren und ggf. revi­die­ren, was man noch ges­tern für rich­tig gehal­ten hat­te. Denn wenn es ein­fach wäre, hät­ten wir kei­ne glo­ba­le Pandemie!

Jeder ist ein Fußballbundestrainer

Kom­men wir nun zum Dun­ning-Kru­ger-Effekt. Wiki­pe­dia beschreibt den Effekt als “die kogni­ti­ve Ver­zer­rung im Selbst­ver­ständ­nis inkom­pe­ten­ter Men­schen, das eige­ne Wis­sen und Kön­nen zu über­schät­zen.” Bedeu­tet: Man weiß so wenig, dass man sich des­sen noch nicht bewusst ist und daher fälsch­li­cher­wei­se annimmt, ein Exper­te zu sein. Erst durch mehr Wis­sen gelangt man schließ­lich zu der Erkennt­nis, nichts zu wis­sen und gelangt durch Ler­nen lang­sam tat­säch­lich zu fun­dier­ten Kennt­nis­sen in eine Domäne.
Wir alle ken­nen das nur zu gut: Wenn wie­der Fuß­ball-WM ist, gibt es gefühlt 80 Mil­lio­nen Fuß­ball­trai­ner am Stamm­tisch oder vor dem Fern­se­her, die alles bes­ser wis­sen zur Tak­tik und wie das Spiel gewon­nen wer­den kann. Ein bekann­tes Zitat, wel­ches in die glei­che Ker­be schlägt, stammt von dem Phy­si­ker Richard Phil­lips Feyn­man und lau­tet frei wie­der­ge­ge­ben: “Wer meint, die Quan­ten­theo­rie ver­stan­den zu haben, hat sie nicht verstanden.”

Genau die­ser kogni­ti­ven Ver­zer­rung unter­lie­gen ver­mut­lich die vie­len empör­ten Kom­men­ta­to­ren auf News­por­ta­len, in Foren und ande­ren Kanä­len, wenn es um die Beur­tei­lung der Wirk­sam­keit von Maß­nah­men zur Ein­däm­mung sei­tens der Poli­tik geht, oder die Beur­tei­lung der Aus­sa­gen von Experten/​Virologen. Eine wei­te­re Aus­prä­gung der Ver­zer­rung bei den genann­ten Per­so­nen­grup­pen besteht dar­in, die aktu­el­le Situa­ti­on aus Unkennt­nis falsch zu klas­si­fi­zie­ren und damit zu ver­ein­fa­chen (“Es ist ja nur eine Grip­pe”) und dar­aus eige­ne nicht fun­dier­te For­de­run­gen und Hand­lungs­emp­feh­lun­gen aus­zu­spre­chen oder im Nach­gang die Emp­feh­lun­gen der Ver­ant­wort­li­chen und Wis­sen­schaft­ler als falsch zu bezeichnen.
Ja, am Ende ist man immer schlau­er, aber das weiß man eben erst, wenn man reagiert hat.

Das geht doch garan­tiert schneller!

Wie ich oben kurz skiz­ziert habe, bie­ten die bei­den vor­ge­stell­ten Model­le eine prak­ti­sche Hil­fe­stel­lung zur ers­ten Ori­en­tie­rung und Ein­ord­nung von Pro­ble­men und mög­li­cher Reak­tio­nen dar­auf von mehr oder weni­ger invol­vier­ten Per­so­nen­grup­pen. Damit las­sen sich teil­wei­se die Hass­kom­men­ta­re zur Coro­na-Poli­tik gut erklä­ren und das Hin und Her von Hand­lungs­emp­feh­lun­gen und Ver­ord­nun­gen zum Umgang und zur Ein­däm­mung einer gras­sie­ren­den Pandemie.
Das Frame­work und der Effekt spie­len aber auch im all­täg­li­chen beruf­li­chen Pro­jekt­kon­text eine gro­ße und wie­der­keh­ren­de Rol­le. Wer kennt nicht die Dis­kus­sio­nen mit Stake­hol­dern, die einem erzäh­len, dass ein Pro­jekt so kom­pli­ziert, lang und teu­er ja nicht sein kann und eigent­lich doch viel schnel­ler, ein­fa­cher und bil­li­ger umge­setzt wer­den kann? Auch hier fehlt den Teil­neh­mern einer­seits das Exper­ten­wis­sen für die rich­ti­ge Pro­blem-Klas­si­fi­zie­rung und damit erfor­der­li­che Vor­ge­hens­wei­se und ande­rer­seits Wis­sen zur die tech­ni­schen Mach­bar­keit. Die Kennt­nis des Frame­works und des Dun­ning-Kru­ger-Effekts kann im All­tag sehr hilf­reich sein, der­lei Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me zu erken­nen und auf­zu­lö­sen. Oder aber auch, die eige­ne Mei­nung und Ein­stel­lung zu hin­ter­fra­gen, wenn man glaubt, etwas bes­ser zu wissen.

Fazit

Der Mensch neigt dazu, alles zu ver­ein­fa­chen und sei­ne eige­nen Fähig­kei­ten zu über­schät­zen. Sicher­lich ist das evo­lu­tio­när betrach­tet auch vor­teil­haft, damit man nicht direkt auf­gibt und sich in die meta­pho­ri­sche Höh­le zurück­zieht. Zum Glück sind wir heut­zu­ta­ge aller­dings nicht mehr so oft auf rei­nes instink­ti­ves und teils vor­ei­li­ges Han­deln ange­wie­sen. Ist man also mit einem neu­en Pro­blem kon­fron­tiert, soll­te man sich stets die Zeit neh­men und sich sowohl das Cyne­fin-Frame­work als auch den Dun­ning-Kru­ger-Effekt ins Gedächt­nis rufen. Wie lässt sich eine Pro­blem­stel­lung in der Cyne­fin-Typo­lo­gie wie­der­fin­den und ein­ord­nen und wel­che Stra­te­gie soll­te ver­folgt wer­den, um Herr der Lage zu wer­den? Man soll­te auch stets eige­ne vor­ei­li­ge Mei­nun­gen über­prü­fen und den eige­nen Kennt­nis­stand in einer Domä­ne kri­tisch hin­ter­fra­gen. Ver­ste­he ich das The­ma wirk­lich so tief, dass ich mei­ne Mei­nung laut­stark ver­tre­ten kann, oder über­schät­ze ich mei­ne Fähig­kei­ten grob und soll­te lie­ber auf die Mei­nung eines Exper­ten ver­trau­en und mich aus­führ­lich in ein neu­es The­ma ein­ar­bei­ten, ehe ich mich als unwis­send oute?

Dis­clai­mer: Ja, mir ist bewusst, dass ich mög­li­cher­wei­se selbst der kogni­ti­ven Ver­zer­rung unterliege. 😉