Theorie U
Die Theorie‑U ist eine Methode für das Veränderungsmanagement und entstand am Massachusetts Institute of Technology. Ihr Begründer, der Hamburger C. Otto Scharmer, führte nach eigenen Angaben 150 Interviews mit Führungskräften, Unternehmern und begleitete Unternehmen und Behörden bei Veränderungsprozessen. Aus diesen Interviews und Erfahrungen bildete er mit seinem Team eine Methode für “Lernen, Management, Innovation und systemische Erneuerung” (vgl. (Scharmer and Kaufer 2013, S. 18)). Scharmer schreibt, dass das “Wesentliche” seiner Theorie recht “einfach” ist:
The quality of results produced by any system depends on the quality of awareness from which people in the system operate. [Die Qualität der Ergebnisse eines jeden Systems hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, mit dem die Menschen in diesem System arbeiten.] (ebd. S. 18).
Die Theorie‑U folgt der Absicht, Personen zu helfen, die große gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben. Im Gegensatz zu anderen Methoden, die einen starken Fokus auf die Vergangenheit und das Lernen aus selbiger haben, geht es bei der Theorie U darum, zwar das Vergangene zu wertschätzen, aber es nicht zum alleinigen Gegenstand zu nehmen: Neuen Herausforderungen kann nicht immer damit begegnet werden, in dem nur die Vergangenheit betrachtet wird. O. Scharmer betont, dass vergangene Erfahrungen nicht unbedingt hilfreich sind. Teilweise können sie einen frischen, unvoreingenommenen Blick in die Zukunft hindern. (vgl. (Scharmer 2019, S. 25ff)). Weiter schreibt er:
Anders ausgedrückt: Aus der Vergangenheit lernen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Alle umwälzenden Herausforderungen verlange, dass wir uns der Sache mit der neuen Herangehensweise nähern. Sie verlangen, dass wir uns entschleunigen, innehalten, die wichtigen Antriebskräfte der Veränderung erspüren, die Vergangenheit loslassen und die Zukunft, die entstehen möchte, kommen lassen. (Scharmer 2019, S.26).
Aus der Vergangenheit lernen, sie dann aber akzeptieren, loslassen und sich der Zukunft öffnen – Diese Phasen finden sich auf der linken Seite in der Repräsentation des Prozesses als U, der Abwärtsbewegung, und dem Scheitelpunkt, welcher mit dem Kunstwort Presencing4 betitelt wird. Die rechte Seite, die Aufwärtsbewegung, ist die Phase des Ideensammelns und des Ausprobierens, sowie der Umsetzung. C. Andriof vergleicht in Ihrem Buch diese rechte Seite mit dem aus klassischen Change-Prozessen bekannten Vorgehen ((Andriof 2021, S. 3)).
Im Detail besteht der U-Prozess aus etwa fünf bzw. sieben Schritten, wobei der mittlere Schritt, das Presencing, im Scheitelpunkt liegt.
U‑Prozess und seine Phasen
Den ersten wichtigen Moment/Schritt abwärts im U‑Prozess bildet die Erkenntnis darüber, dass man sich in einem immerwährenden Kreislauf des Abladens befindet. Erst wenn man sich dessen bewusst wird, kann man damit beginnen, diese Blockade zu durchbrechen und mit der Veränderung zu beginnen. Diese Phase bezeichnet Scharmer als “Herunterladen (Downloading) alter Muster”.
Erst jetzt kann man in der zweiten Phase, dem Sehen (Seeing), neue Möglichkeiten erkennen, sobald “unser gewohneitsmäßiges Urteil” zurückgehalten wird. Nachdem man sich für neue Möglichkeiten geöffnet hat, erfolgt mit Erspüren (Sensing) das Öffnen für andere Perspektiven. Scharmer schreibt, dass hierbei der “Beobachtungsstrahl” zurück auf den Beobachtenden gerichtet wird und damit der Beobachter und das Beobachtete langsam verschwimmt. Nachdem nun im weiteren Verlauf auch vergegenwärtigt wird, wodurch man bisher aufgehalten wurde und man sich bereit fühlt, dies loszulassen, öffnet sich mit dem Presencing – einem Moment des Innehaltens – “die Spähre des zukünftigen Potenzials”. Das Vergangene wird akzeptiert, losgelassen und man blickt auf die Möglichkeiten, welche einem die Zukunft bringen kann. Der Scheitelpunkt ist erreicht und mit dem Verdichten (Crystallizing) folgt der erste Schritt der Abwärtsbewegung. Hierbei geht es darum, Ideen darüber zu sammeln, was alles möglich ist, welche Vision sich für die Zukunft bilden lässt. Dieser Vision, den gesammelten Ideen, folgt mit Prototypen erstellen (Prototyping) die Konkretisierung der nächsten Schritte auf dem Weg des Wandels hin zum Neuem. Den Abschluss bildet dann das Verwirklichen (Performing) dieser zuvor geplanten Schritte und das Verinnerlichen eines neuen Verhaltens (vgl. (Scharmer 2019, S. 40–41)).
In ihrem Buch vergleicht C. Andriof die Theorie‑U mit anderen bekannten Veränderungsmethoden und stellt Parallelen zur Change-Kurve nach Kübler-Ross, den Phasen- und Stufenmodellen nach Kurt Lewin und John Kotter, aber auch dem bekannten Gruppenmodell nach Tuckmann fest (vgl. (Andriof 2021, S. 4–10)).
Kritik an der Theorie‑U
S. Kühl sieht in der Theorie‑U eine weitere Managementmethode, bei der Interessenskonflikte zwischen Beteiligten ausgeblendet werden, was wiederum seiner Ansicht nach, typisch für Managementmethoden ist. Sie hat “aus der Perspektive der Soziologie” die “typische Bauform eienr Managementmethode” und gibt sich wie eben diese ebenfalls nicht damit zufrieden “nur Organisationen optimieren zu wollen, sondern es wird immer gleich auch die Veränderung sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft versprochen”(Kühl 2015, S. 191). Kühl kritisiert weiter, dass die Theorie‑U den “in der soziologischen Systemtheorie als ’soziale Differenzierung’” bezeichneten Prozess “negiert”(Kühl 2015, S. 193). Gemeint ist damit, dass der Systemtheorie nach “soziale Systeme auf verschiedenen Ebenen ganz unterschiedlich funktionieren” und damit Veränderungen in Gruppen, Familien, Organisationen oder gar der Gesellschaft “nach grundlegend anderen Prinzipien” laufen (ebd.). Im weiteren Verlauf seiner Ausarbeitung bemängelt S. Kühl den fehlenden Nachweis der Wissenschaftlichkeit bei der Theorie‑U:
Bei dem Nachweis der Wissenschaftlichkeit wird dann nicht – wie in der Wissenschaft sonst üblich – mit seitengenauen Referenzen auf wissenschaftliche Arbeiten anderer gearbeitet, sondern es wird im Vorwort angeführt, dass man bei der Erarbeitung der eigenen Theorie durch die Überlegungen einer Vielzahl großer Denker beeinflusst wurde.(Kühl 2015, S. 195)
Es wird lediglich mit “wissenschaftlichen Kompetenzsignalen” gearbeitet und die “Anbindung an Universitäten wie das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge herausgestellt”, welche ihrerseits mit solchen den wissenschaftlichen Regeln der fachlichen Begutachtung nicht gänzlich folgenden Publikationen, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen befriedigen, in dem sie eine Nähe zur Wirtschaft und Politik herstellen (vgl. ebd.)
Die Attraktivität der Theorie‑U sieht S. Kühl darin, “dass sie die im Management gehandelten klassischen Phasenmodelle aufgreift und sie mit den in Teilen der Change-Management-Szene populären esoterischen Begriffen und Konzepten auflädt.”. Dabei, so Kühl weiter, handelt es “[…] bei der Theorie U letztlich um eine esoterische Variante klassischen zweckrationalen Denkens”, die aber im Grunde “dem PULM-Phasen-Modell, den „Plan-Do-Check-Act-Zyklen“ oder dem „Unfreeze-Moving-Freeze“-Modell von Kurt Lewin” ähnelt(Kühl 2015, S. 199). Kühl betont weiter:
Letztlich geht es auch in der Theorie U darum, die Ist-Situation zu analysieren, Probleme zu identifizieren, gemeinsam Ziele zu formulieren, neue Möglichkeiten zu entwickeln, diese auszuprobieren und dann umzusetzen.(ebd.)
Bei all der Kritik sieht Kühl anschließend dennoch einen Nutzen in der Theorie‑U, da “[…] sie gerade mit ihrer auf Wandel ausgerichteten Rhetorik Mut zur Veränderung macht”. Sie ermutigt Organisationen dazu, “Unsicherheit, die jeder Entscheidung vorangeht, einfach sehr weitgehend [zu] ignorieren” und Maßnahmen weiterzuverfolgen, damit Unternehmen zu “überzeugten und überzeugenden Handlungen” kommen (vgl. (Kühl 2015, S. 201)).
Wie lässt sich nun die Theorie‑U bzw. der daraus abgeleitete Prozess auf (Team-) Coaching anwenden? Mit dieser Frage und einem praktischen Beispiel geht es im nächsten Teil weiter.
Bildnachweis
[fig:theory_u]: Presencing Institute – Otto Scharmer -
https://www.presencing.org/permissions, (CC BY-SA 3.0)
Quellen
- Der Scrum Guide ist das offizielle Regelwerk zum Vorgehensmodell SCRUM. Er kann unter https://scrumguides.org/ kostenlos abgerufen werden.↩︎
- Auf der Internet-Seite https://retromat.org/ (besucht am 26.4.2022) gibt es eine quelloffene Zusammenstellung von Aktivitäten für Retrospektiven, mit Anleitungen in vielen Sprachen und teilweise angefügten Beispielbildern.↩︎
- Interessierte Leserinnen und Leser werden auf den Wikipedia-Artikel verwiesen, der unter anderem auch auf die Etymologie des Wortes eingeht: https://de.wikipedia.org/wiki/Coaching (Besucht am 27.4.2022)↩︎
- Das Kunstwort setzt sich zusammen aus den beiden englischen Wärtern Presence und Sensing, also Gegenwart und Fühlen↩︎
- Mit Downloading ist das reine Abladen/Beschreiben von Problemen beim Gegenüber gemeint, ohne vordergründig eine selbstwirksame Lösung zu suchen.↩︎