Coaching und agile Retrospektive mit dem U‑Prozess
In den ersten drei Teilen dieser Reihe (Teil 1,Teil 2 und Teil 3) wurden verschiedene Begriffe im Zusammenhang mit agilen Retrospektiven und Coaching erläutert. Außerdem wurde die Theorie‑U als ein möglicher Prozess oder Leitfaden für eine Coaching-Sitzung vorgestellt. Um die Durchführung agiler Retrospektiven zu optimieren, wurde die Idee geboren, diese wichtigen und regelmäßigen Team-Termine in Form von Kurzzeitcoachings abzuhalten.
Wie lässt sich nun die Theorie‑U bzw. der daraus abgeleitete Prozess auf (Team-)Coaching anwenden?
Mit Blick auf die im Teil 1 vorgestellte Struktur einer agilen Retrospektive lassen sich die drei Punkte 2. Gather data, 3. Generate insights und 4. Decide what to do in den fünf bzw. sieben Phasen des U‑Prozesses relativ eindeutig wiederfinden. Im Raum steht also die Frage, wie sich eine agile Retrospektive so aufbauen lässt, dass sie vollständig dem Phasenmodel der Theorie‑U folgt. Bevor jedoch darauf genauer eingegangen wird, soll im folgenden kurz erörtert werden, wie sich die Theorie‑U im Coaching-Kontext (vergleiche Teil 2) einsetzen lässt.
Theorie‑U im Coaching-Kontext
Wie bereits in Teil 2 beschrieben, geht es bei dieser Beratungsform darum, dem Coachee dabei zu helfen, aus sich heraus eine individuelle und passende Lösung für ein Thema entwickeln zu lassen. Wie A. Kutz schreibt, gibt es dabei zwar eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, diese soll aber “[…] konsequent für die Zukunfsausrichtung und Lösungsfokussierung […]” genutzt werden, “[…] um den Klienten aus seiner Problem-Trance herauszuführen […]” (vgl. (Kutz 2020, S. 39)). Mit den Worten von Scharmer müssen Klient:innen also loslassen und sich dafür öffnen, was möglich ist (die Presencing-Phase im Scheitelpunkt des U, Abbildung 1). Die Theorie‑U kann daher nach C. Andriof als, wie sie es nennt, “roter Faden” verwendet werden, welcher dem Coaching-Prozess eine hilfreiche Struktur gibt, damit keine der Phasen ausgelassen wird, die man im Zuge einer Veränderung durchqueren sollte (vgl. (Andriof 2021, S. 47)).
Theorie‑U im Kontext agiler Retrospektiven
Im Teil 2 wurde dargestellt, dass eine agile Retrospektive nach jeder Entwicklungsiteration stattfindet und im Regelfall von einem Scrum Master oder Agile Coach moderiert wird. Im Idealfall wiederholt sie sich also alle zwei bis vier Wochen.
Die Retrospektive hat einen auf die nahe Vergangenheit gerichteten Teil zum Sammeln von Daten, einen Teil zum Ideensammeln und einen zukunftsgewandten Teil, bei dem konkrete Schritte elaboriert und geplant werden (vgl. Teil 1). Sie passt sich also bereits lose in den U‑Prozess von Scharmer, und zwar derlei, dass die Phase des Datensammelns, dem Herunterladen, das Einsichten erzeugen irgendwo zwischen Sensing und dem Presencing hin und her springt und das Entscheiden, was zu tun ist, der Aufwärtsbewegung des U grob entsprechen könnte.
Da je nach Auswahl und Zusammenstellung der Aktivitäten (vgl. hierzu Teil 1) durch den Moderator oder die Moderatorin gerade bei der Abwärtsbewegung die Möglichkeit besteht, dass wichtige Abschnitte aus dem Veränderungsprozess nach Theorie‑U vergessen werden, weil die Phasen der agilen Retrospektive eben nicht eins zu eins zum Prozess‑U passen, soll im weiteren Verlauf ein Ablaufplan mit einer Auswahl von Aktivitäten für eine solche U‑basierte Retrospektive diskutiert werden.
Wie kann eine Retrospektive mit dem U‑Prozess vereinigt werden? Da es sich um eine Team-Coaching-Maßnahme handelt, sollte im Vordergrund ein Coaching-Ziel bzw. eine Coaching-Frage elaboriert werden, an der man sich dann im Verlauf der Sitzung orientiert. Bevor also mit dem U‑Prozess begonnen werden kann, sollte im Team Einigkeit über das Thema der Retrospektive bestehen. Ist das Thema identifiziert, kann erst mit dem eigentlichen Prozess begonnen werden. Die Annahme ist also, dass der U‑Prozess als Unterprozess der Retrospektive Anwendung findet – also als U im U verstanden werden kann. Konkret, mit Blick auf die Struktur der Retrospektive, würde der Unterprozess in den Schritten 3 Generate insights und 4 Decide what to do zur Anwendung kommen und diese Kernaktivitäten vollständig ersetzen, ehe am Ende wieder in den ursprünglichen 5. Schritt Close the retrospective die Sitzung ihren Abschluss fände. An dieser Stelle sei angemerkt, dass in Retrospektiven üblicherweise mehrere priorisierte Themen behandelt werden, man also mit jedem Thema den U‑Subprozess durchschreiten würde.
Da der U‑Subprozess die erwähnten zwei Schritte ersetzt oder zumindest stark erweitert, ergibt sich eine Erleichterung bei der Gestaltung der gesamten Retrospektive: Für die Schritte eins, zwei und fünf kann man auf die Fülle von bereits existierenden Aktivitäten zurückgreifen, sodass Moderator:innen in gewohnter Weise die Retrospektive beginnen und mit dem Team die Themen sammeln kann. Die Themen werden anschließend durch die Teilnehmer:innen priorisiert und als Ausgangsbasis für die Coaching-Ziele verwendet. Auch der Abschluss findet somit in der üblichen Routine statt. Wie diese drei Schritte gestaltet werden können, soll im weiteren Verlauf mit ausgewählten Aktivitäten beschrieben werden. Die wirkliche Herausforderung liegt jedoch im U‑Subprozess.
Anfang und Zieldefinition
In diesem Abschnitt werden Aktivitäten vorgestellt, die für den Anfang der Retrospektive, sowie für das Sammeln von Themen und den Abschluss der Retrospektive verwendet werden können. Zusätzlich wird diskutiert, wie aus der Fülle an Themen, einige wenige identifiziert werden können, die im weiteren Verlauf zur Erarbeitung einer Coaching-Frage verwendet werden, um sie dann im Rahmen des bereits vorgestellten U‑Subprozesses zu bearbeiten.
Am Anfang der Retrospektive sollen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mental ankommen, ihre aktuellen Aufgaben hinter sich lassen und den Fokus ganz auf die kommende Sitzung richten. Sie sollen ferner einen Eindruck davon bekommen, was hinter den Kulissen ihrer Team-Kolleginnen und ‑Kollegen vorgeht, um damit Verständnis für bestimmte vorherrschende Stimmungen, Motivationen, Verhalten und ähnliches zu erhalten. Ein sehr einfaches Tool hierzu ist ein Stimmungsbalken (vgl. Abbildung 2), der stark an die aus dem Coaching bekannten Skalierungsfragen erinnert: auf einer nicht diskreten Skala wird an einem Ende ein trauriges Gesicht, in der Mitte ein neutrales Gesicht und am anderen Ende in glückliches Gesicht platziert. Die Teilnehmer:innen können nun eine Karte mit ihrem Namen dorthin platzieren, wo sie sich persönlich einordnen würden. Sind alle Namen platziert, können die Teilnehmer:innen nacheinander in einigen Sätzen beschreiben, was die Hintergründe ihrer Platzierungen sind.
Beim nächsten Tool, das im Anschluss und immer noch am Anfang der Retrospektive angewendet werden kann, geht es darum, bei den Teilnehmer:innen eine positive Stimmung herzustellen. Positiv gestimmte Menschen sind eher in der Lage, mit künftigen Herausforderungen umzugehen und können auch leichter Lösungen erarbeiten (vgl. (Fredrickson 2003)). Ferner sind positiv gestimmte Personen empathischer und können sich somit besser in andere hineinversetzen (vgl. (Bannink 2012, S. 80)), was der Problemlösung in einem Team dienlich sein kann. Mit der Hilfe von magischen Fragen können die Teilnehmer dazu angeregt werden, Dankbarkeit zu erfahren, was wiederum positiven Affekt begünstigt (vgl. (Berges et al. 2020, S. 13)). Die Teilnehmer:innen werde gebeten, drei Fragen zu beantworten, wobei die Antworten sich nicht auf die Arbeitsdomäne beziehen sollten. Anschließend werden in der Gruppe die Antworten individuell vorgetragen. Die drei Fragen lauten:
- Was war in der vergangenen Woche besonders schön?
- Was hättest du in der vergangenen Woche gerne anders gemacht?
- Worauf warst du in der vergangenen Woche besonders stolz?
Den Teilnehmer:innen wird zur Beantwortung eine Zeit von ca. drei bis fünf Minuten gegeben, sodass die Personen in Ruhe über die Fragen nachdenken können.
Nachdem die Phase des Ankommens abgeschlossen ist, wird nun am Ziel für den oben genannten U‑Subprozess gearbeitet. Das erfolgt in mehreren kleinen Schritten. Im ersten Schritt werden Daten lose gesammelt und anschließend nach Ähnlichkeit gruppiert (Clustern). Im zweiten Schritt werden Themenbereiche durch die Teilnehmer:innen priorisiert, um die Relevanz herausfinden zu können. Zwei Aktivitäten kommen hier zur Anwendung, damit das Team einerseits ein gemeinsames Bild darüber hat, was im betrachteten Zeitraum passiert ist und die hierbei gesammelten Daten evaluieren und zur Informationsgewinnung nutzen kann (vgl. (Derby, Larsen, and Schwaber 2006, S. 49 und S. 73)). Gleichzeitig bekommen die Teilnehmer:innen hier ebenfalls mit, wie unterschiedlich bestimmte Ereignisse von anderen wahrgenommen werden. Die erste Aktivität mit dem Namen Mad, Sad, Glad [wütend, traurig, froh] dient dabei der Datensammlung. Die zweite Aktivität (Learning Matrix [Lernmatrix]) wird dazu verwendet, die gesammelten Daten auszuwerten und daraus Informationen zu extrahieren, die zur Formulierung von einem oder mehreren Zielen genutzt werden.
Bei der Mad, Sad, Glad-Aktivität geht es um das Sammeln von Daten aus einer vergangenen Iteration, wobei speziell der Grad an Emotionalität für die Erinnerung genutzt wird. Es wird nach Quellen für positive und negative Gefühle gesucht (vgl. (Derby, Larsen, and Schwaber 2006, S. 59)). Unterschiedliche Ereignisse lösen bei den Teilnehmer:innen unterschiedliche Gefühlsregungen aus und mit diesem Tool werden diese Ereignisse ins kollektive Team-Gedächtnis geholt. Dazu sammelt jede Personen emotionsgeladene Vorkommnisse, schreibt sie auf Kärtchen und platziert sie auf einer Tabelle in der korrespondierenden Spalte (vgl. Abbildung 3).
Auch hier bietet es sich für ein besseres Verständnis an, wenn nach Beendigung der Einzelarbeit jede Person jeweils die eigenen Zettel kurz erklärt. Hilfreich ist es zudem, mit dem Team auf der Meta-Ebene über die so einsortierten Ereignisse zu reflektieren: Beispielsweise kann mit der Frage, ob für jemanden etwas an dem Bild überraschend ist, bereits eine erste Diskussion angestoßen werden, die für die nächste Aktivität der Informationsextraktion nützlich sein kann.
Mit der nächsten Aktivität, der Lernmatrix, lassen sich aus den bereits gesammelten Daten Erkenntnisse generieren und sammeln, wobei die Teilnehmer:innen vier Perspektiven verwenden sollen, um Ideen zu sammeln (vgl. (Derby, Larsen, and Schwaber 2006, S. 95)). Dazu wird erneut eine Tabelle mit vier Feldern verwendet (siehe Abbildung 4), wobei die einzelnen Felder wie folgt klassifiziert sind (in Klammern das Symbol je Feld):
- was haben wir gut gemacht, das wir fortsetzen sollten? (lachendes Gesicht)
- was sollten wir ändern? (trauriges Gesicht)
- welche neuen Ideen sind aufgekommen? (Lichtbirne)
- wen wollen wir würdigen? (Blumenstrauß)
Bei dieser Übung kann entweder bereits während der gestarteten offenen Diskussion durch den Moderator oder die Moderatorin mitgeschrieben werden oder es findet erneut stille Einzelarbeit statt, wenn dies der Gruppendynamik dienlich ist. Abermals lohnt es sich gegen Ende die Meta-Ebene einzunehmen, um eventuelle Ergänzungen vornehmen zu lassen. Anschließend findet die Priorisierung der Themen statt. Hierzu können die Teilnehmer:innen mit einer begrenzen Anzahl an Stimmen jene Zettel kennzeichnen, die individuell am wichtigsten erscheinen, um weiter bearbeitet zu werden.
Ein alternatives und schnelleres Vorgehen, welches die beiden oben genannten Aktivitäten ersetzt, besteht darin, sich zweier einfachen Fragen zu bedienen und die Teammitglieder diese jeweils zeitlich begrenzt beantworten zu lassen:
- Was ist im betrachteten Zeitraum gut gelaufen?
- Was ist im betrachteten Zeitraum nicht gut gelaufen?
Auch hier wird jede der Fragen einzeln in einer festgelegten Zeitspanne beantwortet, indem die Teammitglieder auf Zetteln in stiller Einzelarbeit Antworten auf die Fragen sammeln und diese dann einander nach Abschluss vorstellen.
Je nach verbleibender Zeit kann eines oder mehrere der ausgewählten Themen nun dazu verwendet werden, um daraus ein oder mehrere Ziele für die weitere Teamsitzung zu formulieren, die als Orientierung im U‑Subprozess dienen werden. Der Moderator bzw. die Moderatorin müssen nun dem Team beim Wortlaut des Ziels helfen, damit allen bewusst ist, um was es gehen und was erreicht werden soll. Dabei geht es vor allem darum, aus der Problemschilderung herauszukommen. Hierzu muss die moderierende Person immer wieder nach dem Ziel fragen und die Diskussion von Problem auf das Ziel lenken, bis das Team in der Lage ist, ein passendes Ziel zu formulieren (vgl. (Radatz 2009, 141)). Wie ein gutes Ziel in einem Coaching-Prozess aussieht, über welche Eigenschaften es also verfügen sollte, zählt S. Radatz in (Radatz 2009, S. 142) auf und zitiert dabei Steve de Shazer. Ein “wohldefiniertes” Zeit sollte demnach:
- Es sollte in Inhalt, Ausmaß und Zielbezug jeweils klar definiert sein.
- Die Umsetzung des Ziels sollte unter dem hundertprozentigen Einfluss des Kunden stehen.
- Das Ziel sollte eher klein als (zu) groß sein.
- Es sollte inter-aktional sein.
- Es sollte immer den Beginn von etwas erfassen (und nicht das Ende).
- Es sollte etwas sein, das wie ein “Wunder” erscheint oder zumindest in Richtung eines Wunders geht.
- Das Ziel sollte in konkreten, spezifischen, verhaltensbezogenen Worten bzw. Ausdrücken beschrieben werden.
- Das Ziel sollte eventuell bestehende Bedingungen mit berücksichtigen.
Bewährt hat sich bei der Zielfindung die folgende dem Team gestellte Frage: “Mit Blick auf die bereits gesammelten Daten – positiv und negativ -, welche Ziele wollt ihr als Team in den nächsten zwei Wochen erreichen? Was soll nach den zwei Wochen anders sein?”. Oft herrscht nach dieser einfachen Frage konzentrierte Stille und die Teammitglieder denken sichtlich angestrengt darüber nach, was sie eigentlich erreichen wollen. Wenn die ersten Stichpunkte niedergeschrieben werden, hilft man dem Team gegebenenfalls bei der Konkretisierung, indem man sie bittet, eine ich oder wir-Formulierung zu wählen.
Erneut lohnt es sich nach Abschluss der Sammlung, die generierten Ziele zu bündeln/clustern und anschließend zu priorisieren: die Teilnehmer:innen bekommen hierzu drei Klebepunkte und können diese beliebig auf jene Ziel-Karten kleben, die ihnen am ehesten zusagen. Schnell ist so eine Sortierung erstellt. Bei mehreren gleich gewichteten Zielen, lässt man das Team über die Reihenfolge entscheiden.
Ist das Ziel oder sind die Ziele formuliert und entspricht es mehr oder weniger den Kriterien der obigen Aufzählung, kann nun mit der Lösungsarbeit im U‑Subprozess, dem eigentlichen Team-Coaching, begonnen werden.
U‑Subprozess zur nachhaltigen Lösungsfindung
Unter der Annahme, dass im Team zuvor ein Thema identifiziert und daraus ein Coaching-Ziel gemeinsam formuliert und ausgewählt wurde, soll nun unter Verwendung der Theorie‑U bzw. des U‑Prozesses und bekannten Coaching-Tools innerhalb der Retrospektive eine nachhaltige Lösung erarbeitet werden. Der U‑Prozess bietet mit seinen sieben Schritten (der Abwärtsbewegung, dem Innehalten und der Aufwärtsbewegung) einen Rahmen dafür, sich mit der Fragestellung gründlich auseinanderzusetzen. Die Autorin C. Andriof erklärt in (Andriof 2021) die Bedeutung der einzelnen Schritte und hat für jeden dieser Schritte Leitfragen formuliert, die den Ausgangspunkt und das Ziel je Schritt einfacher begreifbar machen:
- Neugier: Was ist das vorherrschende Denken? Was könnte neugierig machen auf andere Sichtweisen?
- Empathie: Wie können wir uns in die verschiedenen Perspektiven zum Thema hineinfühlen?
- Mut: Wie können wir erkennen, was uns bremst? Wie gelingt Loslassen?
- Wendepunkt: Wie gestalten wir Presencing? Hej, was geht?
- Kreativ denken: Wie können wir Ideen sammeln? Wie können wir die Ideen dann verdichten?
- Prototypen: Wie können wir daraus Maßnahmen erarbeiten?
- Umsetzen: Wie verproben wir diese? Wie machen wir weiter?
(Quelle: (Andriof 2021, S. 14))
Es folgt eine moderierte Diskussion zum behandelten Coaching-Ziel. Dabei beginnen die Teammitglieder oft ohne besondere Anleitung bereits mit der ersten Phase und beschreiben abermals die aktuelle Situation, was bereits versucht wurde und was nicht zum gewünschten Erfolgt geführt hat. Da ein Ziel formuliert ist, das Team also eine Veränderung bezogen auf das Thema erreichen möchte, gebietet es sich, die Teammitglieder miteinander sprechen zu lassen, sodass allen die Situation bekannt ist und die jeweiligen Standpunkte zum Sachverhalt ausgesprochen sind. Nach einer kurzen Zeit greift jedoch die moderierende Person ein und leitet die Diskussion in die zweite Phase der Empathie. Hierzu eignet sich der Einsatz von Zirkulären Fragen, bei denen das Team nach einem möglichen Standpunkt anderer beteiligten Personen gefragt wird, die nicht Teil der Gruppe und damit nicht in der Retrospektive anwesend sind. Beispielsweise könnte man fragen, wie Projektleiter:innen, Vorgesetzte, Kund:innen oder ein anderes Team die behandelte Situation beschreiben würden. Hilfreich ist hierbei auch, die Bedürfnisse der genannten Personen zu erfragen, sodass das Team zum Wechsel der Perspektive veranlasst wird.
Um länger im Perspektivenwechsel zu verweilen und sich somit ausgiebiger mit den Standpunkten externer Parteien zu beschäftigen, kann eine Übung eingesetzt werden, bei dem das Team die eigenen Ziele mit den (angenommenen) Zielvorstellungen der nicht-anwesenden Externen abgleicht. Dazu bedient man sich eines Brainstormings, wobei im ersten Durchgang die eigenen Intentionen bezogen auf eine Fragestellung (z.B. ein Projekt) gesammelt werden. In zweiten Durchgang nehmen Teammitglieder Standpunkte der Team-Externen ein und sammelt aus dieser Perspektive heraus die (angenommenen) Ziele. Anschließend wird geklärt, inwieweit es eine Übereinstimmung bei den internen und externen Intentionen gibt und wie mit nicht übereinstimmenden Zielen bezogen auf ein mögliches übergreifendes großes Vorhaben (z.B. den Projekterfolg) umgegangen werden kann. Mit Blick auf die zitierten Leitfragen von C. Andriof, kann also in der Gruppe diskutiert werden, was bremst und wie ein Loslassen gelingt – wie also die eigene (Team-) Komfortzone verlassen werden kann, mit Blick auf das zuvor gemeinsam angenommene übergeordnete Vorhaben. Bei dieser Übung kann es hilfreich sein, ein Rollenspiel durchzuführen, bei dem einzelne Teammitglieder diverse Rollen von Projektbeteiligten einnehmen und so gemeinsam die Fragestellung evaluieren.
Mit dieser Übung gelangt das Team im Rahmen der Sitzung zum Wendepunkt – dem Presencing. Die teilnehmenden Personen haben ihre Gedanken für fremde Standpunkte geöffnet und können nun daran arbeiten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Blick auf die Möglichkeiten zu richten, welche die Zukunft nun bietet. In ihrem Buch schlägt C. Andriof an dieser Stelle dein Einsatz von Journaling, einer Methodik zur Reflexion, (vgl. (Andriof 2021, S. 140)), vor, welche mittels verschiedener Fragen “[…] durch die Perspektiven des U führen”(Andriof 2021, S. 114) und schriftlich beantwortet werden, damit das Denken verlangsamt wird.
Abermals kann hier zur Gruppenarbeit angeregt werden, bei der das Team in Untergruppen die vorformulierten Fragen beantworten und anschließend einander vorstellen. Mögliche Fragen für diese Übung sind:
- Was ist die Herausforderungen? Woher nehme ich Energie?
- Was wünscht sich mein Team?
- Was hält mich zurück? Was will ich loslassen?
- Wo sehe ich schon den Keim des Neuen? Wie kann ein Prototyp des Neuen aussehen?
- Wer kann mir helfen, das Neue in die Welt zu bringen?
- Was kann ich tun?
(Quelle: (Andriof 2021, S. 115))
Die Gruppenarbeit ermöglicht es, im kleinen Rahmen über den Sachverhalt und die Fragen sowie die übergeordnete Fragestellung zu diskutieren. Zusätzlich aktiviert die Bearbeitung in kleinen Gruppen auch jene Teilnehmer:innen, die sonst eher weniger zu Wort kommen oder generell zurückhaltend sind. Damit stellt man sicher, dass zusätzliche noch nicht erschlossene Quellen angezapft werden und das ganze Team sich mit dieser Phase identifiziert und an möglichen neuen Lösungsansätzen mitarbeitet.
Damit ist die Phase des Presencing abgeschlossen – der Wendepunkt ist erreicht – und es geht um das ins Handeln kommen. Bei der Ableitung konkreter Schritte aus den zuvor geführten Diskussionen unterstützt die Moderatorin bzw. der Moderator das Team beispielsweise mit Skalierungsfragen und dem Coaching-Tool Wege zum Ziel. Dazu können die folgenden Fragen nacheinander gestellt werden:
- Wenn wir den heutigen Tag nehmen und das Ziel betrachten, das bis zum nächsten Termin erreicht werden soll, wo steht ihr bereits auf einer Skala von eins bis zehn?
- Welcher Grad der Zielerreichung würde euch bereits dabei helfen, dem großen Ziel näherzukommen, auf derselben Skala von eins bis zehn?
- Wie würde dieses Zwischenziel aussehen?
Anschließend geht es darum, die immer noch groß wirkende Herausforderung in kleine, überschaubare und erreichbare Schritte aufzubrechen. Dazu wird das Team abermals durch Fragen seitens der moderierenden Person im Denken unterstützt:
- Wie sieht ein möglicher erster Schritt aus, um dem Ziel näherzukommen?
- Wie sieht der nächste Schritt aus?
- Wer kann euch bei Erreichen dieses Zwischenschrittes unterstützen?
- Welche bereits vorhandenen Ressourcen könnt ihr für diesen Zwischenschritt nutzen?
- Und was noch?
Gemeinsam arbeitet sich so das Team Schritt für Schritt in Richtung Zielzustand und erarbeitet sich eine kleine überschaubare Liste an konkreten Aufgaben, die sie nach der Retrospektive gemeinsam abarbeiten können. Als besonders hilfreich hat sich dabei erwiesen, jedem Teilschritt, jeder Aufgabe, einen Paten oder Patin aus dem Team zu bestimmen, der oder die für die Teilaufgabe verantwortlich ist und sich um Erledigung oder zumindest um die Erinnerung an die gemeinsame Erledigung kümmert.
Ist noch Zeit vorhanden, kann das nächste Ziel mit dem gleichen Vorgehen bearbeitet werden. Ansonsten wird die Retrospektive mit einigen letzten Übungen beendet.
Abschluss der Sitzung
Beim Abschluss der Retrospektive geht es darum, noch mal über die anstrengende Arbeit bis hierher zu reflektieren, aber auch die Sitzung als solche zu evaluieren. Hierzu eigenen sich drei kurze Aktivitäten, die diesem Ziel dienen.
Anfangs begibt man sich mit dem Team abermals auf die Meta-Ebene und sammelt die Eindrücke und Erfahrungen. Dazu stellt man dem Team die folgende Frage: Was habe ich in der heutigen Sitzung gelernt? Nach einer kurzen Bedenkzeit können die Teilnehmer:innen ihre Antwort mit der Gruppe teilen, damit die Erfahrung kollektiviert wird.
Bei der vorletzten und letzten Aktivität bedient man sich abermals der Skalierung: Mittels eines Gefühlsstrahls fragt man das Team nach der individuellen Stimmung zum jetzigen Zeitpunkt. Dazu platzieren die Personen erneut ein Kärtchen mit ihrem Namen auf einen Strahl oder malen einfach ein passendes Emoji auf eine Karte, welches ihren aktuellen Zustand symbolhaft abbildet.
Da zum Ende einer Coaching-Sitzung eine Evaluation durchgeführt werden sollte, um eine gewisse Qualitätskontrolle zu haben, wird zum Schluss mittels ROTI (Return on time invested) abgefragt, wie nützlich die Sitzung empfunden wurde. Dies dient der moderierenden Person als Feedback für die eigene Arbeit. Dazu schreibt jeder Teilnehmer eine Zahl auf eine Karte und lässt sich einfach auf dem Platz liegen. Dabei sind folgende Zahlen möglich:
- wertlos: einige Stunden verloren
- wenig Nutzen: zu wenig Nutzen für eingesetzte Zeit
- Nutzen und investierte Zeit sind ausgewogen
- Die Vorteile überwiegen den Zeiteinsatz
- großer Nutzen: sehr wertvoll investierte Zeit.
Zusätzlich können die teilnehmenden Personen darum gebeten werden, weiteres Feedback anonym auf eine Karte zu schreiben, und diese ebenfalls beim Verlassen des Raumes liegenzulassen oder an die Tür zu kleben. Neben einer messbaren Qualitätsgüte erhält man so eventuell konkretes Feedback. Mit dieser letzten Übung ist die Retrospektive beendet. Die moderierende Person muss nun nur noch den Termin dokumentieren und die durch das Team definierten Aufgaben und Schritte zur Zielerreichung den Teilnehmern zugänglich machen, damit sie die Aufgaben auch abarbeiten können. Bei der nächsten Retrospektive wird dann am Anfang gemeinsam reflektiert, wie der Grad der Erreichung ist und ob das Ziel weiterhin relevant ist, um gegebenenfalls weiter verfolgt zu werden.
Fazit und Ausblick
Die agile Retrospektive orientiert sich (sofern man tatsächlich den empfohlenen Phasen folgt) bereits lose an einer klassischen Coaching-Sitzung. Daher ist die stärkere Anpassung an Coaching-Abläufe und das Verwenden von Coaching-Tools ohne weiteres und im beliebigen Grade möglich. Da jedoch in der Regel ein Team von ca. 7 Personen an so einer Sitzung teilnehmen, können Tools nicht eins zu eins übernommen werden. Es empfiehlt sich daher, viele Übungen in kleineren Gruppen durchzuführen und am Ende die jeweiligen Resultate vorzustellen, um wieder ein gemeinsames Erfahren zu ermöglichen.
Im Selbstversuch machte der Autor dabei die (subjektive) Erfahrung, dass mit dem beschriebenen Vorgehen die Team-Retrospektiven fokussierter war und deutlich weniger Downloading5 seitens der Teilnehmenden stattfand. Während der Definition der Ziele war stets ein längeres Nachdenken wahrnehmbar, die anschließende Formulierung von Schritten zur Zielerreichung gelang einfacher und das Team war auch mutiger in der Wahl der Maßnahmen. Für den Moderator vereinfachte sich die Arbeit dahingehend, dass bereits mit der Zieldefinition die später besprochenen Themen weniger “nebulös” schienen und die Diskussionen sich ebenfalls seltener “im Kreise drehten”.
Zur Wahrung von Objektivität sei an dieser Stelle eine Evaluierung klassischer und jener an den U‑Prozess angelehnten Retrospektiven angeraten. Dazu kann neben dem bereits erwähnten ROTI zusätzlich nach dem Grad der Effektivität, Effizienz, Fokussierung und Zufriedenheit mit den Zielen gefragt sowie eine Evaluation der Zielerreichung durchgeführt werden.
(Der ganze Artikel kann hier als PDF heruntergeladen werden:
Agile Retrospektive als Kurzzeit-Teamcoaching unter Anwendung der Theorie‑U und den Ansätzen aus dem systemischen Business Coaching“)
Bildnachweis
[fig:stimmungsbalken]: Patrick T. Chmielewski, (CC BY-SA 3.0)
[fig:mad_sad_glad]: Patrick T. Chmielewski, (CC BY-SA 3.0)
[fig:learningmatrix]: Patrick T. Chmielewski, (CC BY-SA 3.0)
Quellen
- Der Scrum Guide ist das offizielle Regelwerk zum Vorgehensmodell SCRUM. Er kann unter https://scrumguides.org/ kostenlos abgerufen werden.↩︎
- Auf der Internet-Seite https://retromat.org/ (besucht am 26.4.2022) gibt es eine quelloffene Zusammenstellung von Aktivitäten für Retrospektiven, mit Anleitungen in vielen Sprachen und teilweise angefügten Beispielbildern.↩︎
- Interessierte Leserinnen und Leser werden auf den Wikipedia-Artikel verwiesen, der unter anderem auch auf die Etymologie des Wortes eingeht: https://de.wikipedia.org/wiki/Coaching (Besucht am 27.4.2022)↩︎
- Das Kunstwort setzt sich zusammen aus den beiden englischen Wärtern Presence und Sensing, also Gegenwart und Fühlen↩︎
- Mit Downloading ist das reine Abladen/Beschreiben von Problemen beim Gegenüber gemeint, ohne vordergründig eine selbstwirksame Lösung zu suchen.↩︎