Agi­le Retro­spek­ti­ve als Kurz­zeit-Team­coa­ching unter Anwen­dung der Theorie‑U – Teil 1: Was ist eine Retrospektive

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Die vor­lie­gen­de Abschluss­ar­beit ent­stand im Zuge der Aus­bil­dung zum sys­te­mi­schen Mas­ter Busi­ness Coach (ECA) an der Inter­na­tio­na­len Aka­de­mie Ber­lin für inno­va­ti­ve Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Öko­no­mie gGmbH (INA). Sie beleuch­tet, inwie­weit die in der agi­len Soft­ware­ent­wick­lung bewähr­te soge­nann­te agi­le Retro­spek­ti­ve als Inter­ven­ti­on zur kon­ti­nu­ier­li­chen Pro­zess­ver­bes­se­rung dem Mus­ter der Theorie‑U von Otto Sch­ar­mer, sowie dem Ablauf einer Coa­ching-Sit­zung folgt, und wie sie sich mit­tels der Theorie‑U sowie Metho­den aus dem sys­te­mi­schen Busi­ness Coa­ching pla­nen und als Kurz­zeit-Team­coa­ching durch­füh­ren lässt. Im Rah­men der Arbeit wer­den ein­lei­tend die Begrif­fe Agi­le Retro­spek­ti­ve, sowie Theorie‑U und sys­te­mi­sches Busi­ness Coa­ching erläu­tert. Anschlie­ßend wer­den die Pha­sen der agi­len Retro­spek­ti­ve den Pha­sen der Theorie‑U und dem Ablauf einer typi­schen Coa­ching-Sit­zung gegen­über­ge­stellt. Im letz­ten Teil wird eine bei­spiel­haf­te agi­le Retro­spek­ti­ve als Kurz­zeit-Team­coa­ching kon­stru­iert. Dazu wer­den exem­pla­risch bekann­te Tools für agi­le Retro­spek­ti­ven in das Pha­sen­mo­del der Theorie‑U ein­sor­tiert und ein voll­stän­di­ger Ablauf gebildet.

Agi­le Retrospektive

Im fol­gen­den Abschnitt wird erläu­tert, was unter dem Begriff der agi­len Retro­spek­ti­ve ver­stan­den wird, wo die­se Metho­de ange­wen­det wird und wel­ches Ziel sie ver­folgt. Zusätz­lich wird der typi­sche Ablauf einer sol­chen Sit­zung dargestellt.

Was sind agi­le Retrospektiven

Die Retro­spek­ti­ve ist ein regel­mä­ßi­ges Team-Mee­ting, bei dem die Team­mit­glie­der gemein­sam zurück­bli­cken (retro­s­pec­ta­re ist Latein für “zurück­bli­cken”), um Pro­blem­fel­der zu iden­ti­fi­zie­ren und Wege zu fin­den, die Arbeit zu ver­bes­sern. Sie kön­nen auch ver­stan­den wer­den als ein “[…]Mini-Post-Mor­tem, nur dass das Objekt der Refle­xi­on noch lebt.” (Pich­ler 2008, S. 111). Sie hat also einen rück­wärts­ge­wand­ten Teil, nutzt aber die gewon­nen Erkennt­nis­se, um wie­der in die Zukunft zu bli­cken. R. Davies und L. Sed­ley emp­feh­len daher in ihrem Buch (Davies and Sed­ley 2009, S. 262) fol­gen­des Vorgehen:

Neh­men Sie eine Hälf­te der Retro­spek­ti­ve, um auf die ver­gan­ge­ne Ite­ra­ti­on zurück­zu­schau­en, um Erkennt­nis­se dar­über zu gewin­nen, was gesche­hen ist und war­um. Schau­en Sie anschlie­ßend nach vorn und ent­wi­ckeln Sie Ideen, wie man die Din­ge ver­bes­sern kann sowie Akti­ons­plä­ne, um die­se Ideen umzusetzen.

Die Sinn­haf­tig­keit für den Ein­satz von Retro­spek­ti­ven erschließt sich mehr als deut­lich durch die Aus­sa­ge des Autors Hen­rik Kni­berg, der in (Davies and Sed­ley 2009) wie folgt zitiert wird:

Ohne Retro­spek­ti­ven wür­de das Team den glei­chen Feh­ler immer wie­der machen.

Im SCRUM, einer agi­len Vor­ge­hens­me­tho­de zur Soft­ware­ent­wick­lung, sind Sprint Retro­spek­ti­ven fes­ter Bestand­teil und fin­den nach jeder Ent­wick­lung­si­te­ra­ti­on statt. Dem Scrum Gui­de1 nach wird der Zweck der Retro­spek­ti­ve dar­in gese­hen “[…] Wege zur Stei­ge­rung von Qua­li­tät und Effek­ti­vi­tät zu pla­nen.” (Schwa­ber and Sut­her­land 2020, S. 10).

Gefolgt wird dabei dem agi­len Grund­satz “Inspect and Adapt”, bei dem nicht nur Pro­duk­te und Pro­zes­se immer wie­der über­prüft und durch Anpas­sung ver­bes­sert wer­den sol­len, son­dern auch die Zusam­men­ar­beit in einem Team. Immer wie­der soll dabei der Fokus dar­auf gelegt wer­den, wie das Team arbei­tet und inter­agiert (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006) xv-xvi).

Im fol­gen­den Kapi­tel wird auf den Pro­zess und den Ablauf kurz ein­ge­gan­gen, damit sich Lese­rin­nen und Leser eine bes­se­re Vor­stel­lung machen kön­nen. Zur aus­führ­li­che­ren Dar­stel­lung sei auf gän­gi­ge Lite­ra­tur ver­wie­sen, wie bei­spiels­wei­se “Agi­le Retro­s­pec­ti­ces – Making Goot Teams Gre­at” von E. Der­by und D. Lar­sen ((Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006)).

Struk­tur einer agi­len Retrospektive

Eine Retro­spek­ti­ve folgt immer mehr oder weni­ger strikt dem glei­chen Mus­ter (ent­nom­men aus (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006) und durch den Autor frei übersetzt):

  1. Set the stage (Intro).
  2. Gather data (Daten Sammeln).
  3. Gene­ra­te insights (Ein­sich­ten erzeugen).
  4. Deci­de what to do (Ent­schei­den, was zu tun ist).
  5. Clo­se the retro­s­pec­ti­ve (Abschluss).

Übli­cher­wei­se wer­den in jeder Pha­se spe­zi­el­le Akti­vi­tä­ten 2 ver­wen­det, um den Gedan­ken­fluss und den Aus­tausch zu unter­stüt­zen. So besteht eine Pha­se aus eine weit­ge­hend stil­len Ein­zel- oder Grup­pen­ar­beit mit anschlie­ßen­dem gegen­sei­ti­gen Vor­stel­len und optio­nal einer Dis­kus­si­on der ein­ge­brach­ten Punkte.

Die zugrun­de­lie­gen­de Idee für den Ein­satz sol­cher Akti­vi­tä­ten wäh­rend einer Retro­spek­ti­ve liegt dar­in, eine vor­han­de­ne Team­dy­na­mik auf­zu­bre­chen und sowohl eine gleich­be­rech­tig­te Teil­nah­me zu för­dern, als auch den Fokus der Gesprä­che zu len­ken, sodass ein Abdrif­ten zumin­dest gehemmt wird. Zusätz­lich geben Akti­vi­tä­ten einen guten Gesamt­über­blick und ermög­li­chen einen Per­spek­ti­ven­wech­sel. Zu guter Letzt begüns­ti­gen sie das Ent­wi­ckeln neu­er Ideen, da die Per­so­nen außer­halb ihrer all­täg­li­chen Rou­ti­nen gebracht wer­den. (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006, S. 21–22)).

Die Gestal­tung und die Mode­ra­ti­on des Mee­tings liegt in den meis­ten Fäl­len beim Agi­le Coach, wel­cher das Team der die Orga­ni­sa­ti­on betreut und beglei­tet. Die mode­rie­ren­de Per­son ist neu­tral und soll­te sich nicht an der Ideen­fin­dung zum Erzie­len von Ver­bes­se­run­gen betei­li­gen. Es kann den­noch nütz­lich sein, den “Ele­fan­ten im Raum” vor­sich­tig anzu­spre­chen, wenn “[…] sich das Team in der Retro­spek­ti­ve um ein The­ma drückt […]”(Davies and Sed­ley 2009, S. 270)

Was genau geschieht in jeder Phase?

Set the stage (Intro)

In der ers­ten Pha­se geht es um das Ankom­men und gemein­sa­me Ein­stei­gen in den Arbeits­mo­dus. Hier wer­den grund­le­gen­de Ver­ein­ba­run­gen zu Ver­trau­lich­keit und einem respekt­vol­len Mit­ein­an­der getrof­fen, damit ein offe­nes Gespräch erst mög­lich wird. Sofern bereits eine Retro­spek­ti­ve durch­ge­führt wur­de, kön­nen die ver­gan­ge­nen Zie­le durch­ge­gan­gen und über­prüft wer­den (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006, S. 23)).

Gather data (Daten Sammeln)

Da eine rela­tiv gro­ße Zeit­span­ne über­blickt wer­den muss, geht es in die­ser Pha­se dar­um, Daten aus der betrach­te­ten zurück­lie­gen­den Ent­wick­lung­si­te­ra­ti­on zu sam­meln und gege­be­nen­falls Ver­bin­dun­gen zwi­schen Ereig­nis­sen zu erken­nen (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006, S. 23)).

Gene­ra­te insights (Ein­sich­ten erzeugen)

Nach­dem in der vor­her­ge­hen­den Pha­se Daten gesam­melt wur­den, geht es jetzt um die Aus­wer­tung sel­bi­ger. Dazu wird geschaut, ob bestimm­te Mus­ter erkenn­bar sind oder ob spe­zi­el­le Gescheh­nis­se auf die behan­del­ten Pro­ble­me ein­zah­len. Im nächs­ten Schritt wird gemein­sam nach der Ursa­chen, mög­li­chen Fak­to­ren und Ereig­nis­sen gesucht, wel­che für ein Pro­blem ver­ant­wort­lich sein könn­ten (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006, S. 23)).

Deci­de what to do (Ent­schei­den, was zu tun ist)

In der vor­letz­ten Pha­se wer­den gemein­sam Ideen ent­wi­ckelt, wie dem zuvor ana­ly­sier­ten Pro­blem und sei­nen Ursa­chen begeg­net wer­den kann. Es wer­den recht kon­kre­te Vor­schlä­ge als Expe­ri­men­te defi­niert, die in der fol­gen­den Ite­ra­ti­on dann aus­pro­biert wer­den kön­nen. Sie bil­den damit eine selbst geschaf­fe­ne Hand­lungs­emp­feh­lung mit dem Ziel, eine Ver­bes­se­rung zu erzie­len (vgl. (Der­by, Lar­sen, and Schwa­ber 2006, S. 24)).

Clo­se the retro­s­pec­ti­ve (Abschluss)

Den Abschluss bil­den Akti­vi­tä­ten zur Ver­bes­se­rung der Retro­spek­ti­ve selbst. In die­sem letz­ten Schritt wird über­prüft, wie effek­tiv und effi­zi­ent die Retro­spek­ti­ve, die Mit­ar­beit aller war und ob sich die inves­tier­te Zeit tat­säch­lich gelohnt hat. Natür­lich geht es hier­bei auch um ein Aner­ken­nen der Team­leis­tung. Die mode­rie­ren­de Per­son kann hier nütz­li­ches Feed­back einsammeln.


  1. Der Scrum Gui­de ist das offi­zi­el­le Regel­werk zum Vor­ge­hens­mo­dell SCRUM. Er kann unter https://scrumguides.org/ kos­ten­los abge­ru­fen wer­den.↩︎
  2. Auf der Inter­net-Sei­te https://retromat.org/ (besucht am 26.4.2022) gibt es eine quell­of­fe­ne Zusam­men­stel­lung von Akti­vi­tä­ten für Retro­spek­ti­ven, mit Anlei­tun­gen in vie­len Spra­chen und teil­wei­se ange­füg­ten Bei­spiel­bil­dern.↩︎
  3. Inter­es­sier­te Lese­rin­nen und Leser wer­den auf den Wiki­pe­dia-Arti­kel ver­wie­sen, der unter ande­rem auch auf die Ety­mo­lo­gie des Wor­tes ein­geht: https://de.wikipedia.org/wiki/Coaching (Besucht am 27.4.2022)↩︎
  4. Das Kunst­wort setzt sich zusam­men aus den bei­den eng­li­schen Wär­tern Pre­sence und Sens­ing, also Gegen­wart und Füh­len↩︎
  5. Mit Down­loa­ding ist das rei­ne Abladen/​Beschreiben von Pro­ble­men beim Gegen­über gemeint, ohne vor­der­grün­dig eine selbst­wirk­sa­me Lösung zu suchen.↩︎

Quel­len

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